Nur den Tag überstehen

Ein behindertes Kind: Für viele Eltern ist das das Ende aller Träume. Inge Trichtinger hat erlebt: Es kann auch ein Anfang sein.

Vorher war es ein unbeschwertes Leben. Und ich dachte, es würde so weitergehen. Eine ruhige Kindheit, dann Berufsausbildung und Studium nach Wunsch. Mit 30 entschied ich mich für eine Familiengründung, heiratete, bekam eine Tochter, dann die zweite. Ich dachte schon daran, mit der Einschulung der Jüngeren wieder berufstätig zu werden, zumindest halbtags.

Dann, in ihrem dritten Lebensjahr erkrankte meine jüngere Tochter. Eine Hirnerkrankung. Wir verbrachten monatelang viel Zeit im Krankenhaus mit großer Angst vor der Zukunft. Keiner der so genannten Fachleute wagte eine Prognose. Die gesamte Familie geriet aus dem Tritt. Meine Tochter litt an Epilepsie, an Nebenwirkungen der Medikamente; sie hatte massive Verhaltensauffälligkeiten und eine drastische geistige Retardierung. Es war für mich damals unvorstellbar, jemals wieder froh und freudig für die Zukunft zu planen.

Die damalige Herausforderung hieß: den aktuellen Tag überstehen. Und: Akzeptieren, dass etwas auf mich zukam, das nicht in meiner Lebensplanung vorgesehen war und das die üblichen Anforderungen an Elternschaft übersteigen würde.
Heute, im Nachhinein, weiß ich: Mich dieser Herausforderung zu stellen, war die erste Stärke.

Und sie half mir, noch weitere zu entwickeln:

  • Gelassenheit gewinnen und Ruhe bewahren
  • Bedürfnisse von jemand erspüren, die sich nicht gut äußern kann
  • aus der Situation heraus schnell entscheiden, was wichtig ist und was noch warten kann
  • zufrieden sein mit kleinen Erfolgen und Glücksmomenten im Alltag
  • eigene Bedürfnisse eine Weile zurückstellen, bis sie zumindest annähernd erfüllbar werden
  • sich auf das Mögliche konzentrieren, statt über das Unmögliche zu klagen
  • eigene Stärken und die der Menschen betonen, anstatt nur die Schwächen zu sehen
  • sich einsetzten für die Belange von Menschen mit geistiger Behinderung und sie ernst nehmen auf ihrem Weg zur Selbstbestimmung.

Hätte mir jemand vor 20 Jahren gesagt, was auf mich zukommt – ich hätte vermutlich geglaubt, dass ich das niemals schaffen könnte: lebenslang Verantwortung für einen Menschen zu tragen, der nie ganz selbständig leben kann, für ihn die richtigen Entscheidungen zu treffen, falls er selbst dazu nicht in der Lage ist. Eine solche Verantwortung zu tragen, würde in jedem Beruf hoch angesehen! Es erforderte Durchhaltevermögen, sie zu übernehmen; es beschert Entscheidungskonflikte, Krisen und Enttäuschungen. Doch die notwendige Kraft und Stärke entwickeln sich allmählich im Laufe der Zeit. Auch wenn es Jahre gedauert hat, bis ich das positiv sehen konnte.

Inge Trichtinger